Delitzsch. LVZ-Reporterin Christine Jacob ist nicht schlauer geworden. In ganzen 16 anderen Jobs fernab des Journalismus hat sich die 29-Jährige schon probiert. Und hat noch immer keinen anderen Job gefunden, der ihr so gut gefällt, dass sie die Sache mit dem Schreiben sein lässt. Also geht die Suche weiter. Ich weiß nicht mehr genau, wie mir das Trauerspiel „Schülerin an der Theaterakademie Sachsen“ passieren konnte. Als Akademieleiterin Susi Kaden mal vorschlug, ich könne ja mal einen Tag Schauspiel studieren, muss ich spontan zugesagt haben. Da stehe ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor: Eine Leggings sieht einfach an einem ausgewachsenen Körper nicht gut aus. Aber ist das Selbstbewusstsein erst mal ruiniert, tanzt es sich ganz ungeniert. Tanz steht nämlich für meine erste Schulstunde an der Theaterakademie Sachsen auf dem Plan. Es ist 10 Uhr morgens und ich habe jetzt beschlossen, einfach alle Eitel- und Peinlichkeit abzuschütteln. Ja, ich bin mindestens zehn Jahre älter und ungelenker als die Schüler um mich herum. Na und? Immerhin: Als kleines Mädchen habe ich mal ein Jährchen den rosaroten Traum der Ballerina geträumt. Dass ich aber mal vor langer, langer Zeit Ballettpositionen erlernt habe, kommt mir jetzt ganz gelegen. Ich weiß, in welche Richtung ich meine Füße und Beine verrenken und verdrehen muss. Ganz gut kann sich mein Körper daran erinnern, dass ich zum Beispiel in der ersten Position die Füße auf eine Linie mit sich berührenden Fersen bringen muss. Klingt nicht bequem? Ist es auch nicht. Und viel mehr als die Positionen kenne ich auch nicht. Wenn Trainerin Silke Neumann die zackigen Ballettbefehle durch den Saal schickt, muss ich immer bei den anderen abgucken, ob ich nun tief in die Knie gehen soll oder das Bein hoch in den Himmel schwingen muss – was bei mir aber eh nix wird. Dass meine Beine so ungewohnt verdreht sind und der Körper Schwerstarbeit beim Stemmen seiner selbst leisten muss, zeigt sich schon nach nicht einmal 30 Minuten mit dem ersten Krampf. Der zieht sich durch die Zehen meines rechten Fußes, die gerade meinen gesamten Körper tapfer in die Höhe recken, während das linke Bein in der Luft schweben soll. Der Krampf ist so stark, dass der ganze Fuß sich krümmt und sich der große Zeh unter die anderen schiebt. Es passt nicht zum rosa Image des Balletts, aber ich würde jetzt wirklich sehr gerne sehr viele Schimpfworte benutzen. Fehlt mir aber auch die Puste zu, also ist Ruhe im Fluch-Karton Jacob. Jetzt weiß ich aber auch wieder, wozu eine Ballettstange gut ist: zum Festhalten. Die Stange verhindert, dass ich hinknalle. Und ich muss ja auch nur noch 60 Minuten überstehen. Das macht dann noch mal drei Krämpfe. Dass Tanz harte Arbeit ist, sieht man der Leichtigkeit auf der Bühne doch nie an? Immer wieder korrigiert Silke Neumann meine und – ätsch, so schlecht bin ich also nicht – die Haltung der anderen. Das ist wichtig. Das Balletttraining soll den angehenden Musicaldarstellern, aber auch den Schauspielschülern der Akademie Haltung vermitteln. Eine gute Haltung ist immens wichtig für Leute, die auf der Bühne oder vor der Kamera stehen. Da darf man keine hängenden Schultern haben, hängende Schultern spielt man höchstens. Außerdem ist der Körper Kapital, muss fit und immer in Schuss gehalten werden. Nur wer damit umzugehen weiß, kann erfolgreich auf der Bühne (be)stehen. 90 Minuten später habe ich nur einen Gedanken: Hunger! „Das geht mir auch immer so, ich könnte ständig essen“, sagt Franziska Ritter-Borchardt. Die 19-Jährige ist aus Weimar an die Theaterakademie Sachsen gekommen. Das viele Training, die anstrengenden Schauspiellektionen und die langen Tage an der Akademie würden den Kalorienverbrauch in die Höhe treiben, sagt sie und findet meine „Puh, ist das alles so anstrengend“-Reaktion ganz normal. Nicht normal ist es dagegen, zwei Stunden auf allen Vieren zuzubringen. Sprecherziehung nennt sich meine nächste Lektion. Bevor ich in den Raum von Sprecherzieherin Ulrike Christl gehe, scherze ich noch „Seit wann ist es bitte nötig, Frauen das Sprechen beizubringen?“ Viele Worte machen kann ich ganz gut. Ich dachte, dass ich einen Tischtennisball oder einen Korken in den Mund nehmen muss und so die klare Aussprache trainiere. Daneben. Ich bin genau wie Franziska Ritter-Borchardt, Loraine Ziemke, Moritz Thede und Lucas Wawra, die ich an diesem Tag begleite, Erstsemester. Ganz am Anfang. Ulrike Christl bringt uns unter anderem bei, dass man sich locker machen muss, um stimmgewaltig genug zu werden. Und sie verdeutlicht mir, dass bei jedem Bühnenmenschen wichtig ist, dass er sich ein bisschen wie Kind oder Tier verhält – denen nämlich ist egal, wie sie gerade aussehen oder wirken, sie sind uneitel. Zu Beginn machen wir uns ein wenig warm. Schon geht es auf die Knie. Da sollen wir uns vorstellen, wir wären Katzen. Auf Knie und Handgelenke gestützt, sitze ich also auf einer blauen Trainingsmatte und soll einen Katzenbuckel machen, danach den Rücken wie eine Kuh durchbeugen, immer hin und her. Irgendwie scheinen die Worte von Ulrike Christl bei mir schon gefruchtet zu haben. Ich denke nicht eine Sekunde darüber nach, was ich hier tue und wie ich dabei aussehe. Klaus Kinski sagte ja auch immer „Ich spiele nicht, ich bin das“ – gut, bin ich eben eine Katze. Eine, die faucht, wenn Ulrike Christl es sagt. Eine Katze, die sich räkelt. Eine, die hemmungslos mit Kater Moritz (im wirklichen Leben erst 16) flirtet, wenn das die Aufgabe ist. Eine, die den anderen Katzen doch noch etwas voraus hat. Ulrike Christl wirft uns fünf Katzen ein imaginäres Stück Fleisch in die Mitte. Die Aufgabe: Nur mit Lauten und Blicken, ohne das Fleisch nur im Ansatz zu berühren, sollen wir klären, wem das Stück gehört. Schön und gut, dass die anderen schauspielerisches Talent haben. Aber ich habe drei Brüder und zehn Jahre mehr Lebenserfahrung. Ich spiele nicht, jemanden anzufauchen – im echten Leben musste ich das schon oft genug. Das Fleisch ist meins! Als uns Ulrike Christl erlaubt, uns das Fleisch auch körperlich zu holen und die anderen Katzen eine Menge Drohkulissen vom Stapel lassen, lasse ich meine alte Pranke einfach nur sinken. Der fette Kater Garfield reservierte sich so auch seine Pizza. Weitere Übungen dieser Stunde bringen mir noch eine kostenlose Massage. Um den menschlichen Körper und dieses Instrument besser kennen zu lernen, bleibe ich auf allen Vieren und gebe ein durchgehendes „hmmmmmmmmmmmm“ von mir, während Franziska immer wieder vom Becken an mit beiden Händen meinen Rücken, die Wirbelsäule und die Rippen abtastet, um zu spüren, dass die Kraft aus dem Becken kommt. Ich denke nicht darüber nach, dass mich hier jemand fast Fremdes berührt und gerade meine Beckenknochen umschließt. Wer miteinander auf der Bühne körperlich werden muss, der darf keine Berührungsängste haben. Dass wir solche Ängste längst überwunden haben, merkt in der letzten Stunde des Tages auch Schauspiellehrer Bernd Guhr. Von 16 bis 19 Uhr dauert die Lektion bei ihm, er vermittelt Grundlagen und Improvisation im Gruppenunterricht. Normalerweise störe ein Fremdkörper wie ich da, sagt Prof Guhr gleich zu Beginn. Doch bald hat er erkannt, dass ich zur Gruppe gehöre. Ich will alles mitmachen – die Pantomime, alle Spielchen und Tests. Ich lasse mir die Augen verbinden und taste mich als Angreifer mit dem Fantasiemesser über die Bühne. Ich spiele das mit einem gellenden Schrei zusammenbrechende Mordopfer und erlebe, wie befreiend so ein Schrei sein kann. Ich spiele. Ich bin. Ich genieße es. Es ist befreiend. Ich habe jetzt richtig Lust auf alles Mögliche und Unmögliche, lasse mich auf diese Magie zwischen uns allen hier ein. Nur mit den Worten „Du“ und „Ich“ zum Beispiel sollen Lucas und ich improvisieren. Immer hin und her gehen „Du“ und „Ich“, arten sogar in einen fast handfesten Streit zwischen mir und dem 20-Jährigen aus. Dass wir uns an die Kehle gehen, wird verhindert, indem ich mit einem letzten vorwurfsvollen und verletzten „Du“ den Raum verlasse und die Tür zuknalle. Oder flüchte ich, weil ich das vorwurfsvolle „Du“ aus seinem Mund nicht mehr ertragen kann? Ich weiß es nicht, ich bin durcheinander. Draußen vor der Tür muss ich ganz tief durchatmen – eine gespielte Emotion ist fast wie die echte. Und ich bin gerade so richtig wütend auf meinen Impro-Partner Lucas, der mir ja nie etwas getan hat. Ich könnte heulen, weil ich so unfassbar wütend bin. Ich muss mir selbst erst sagen, dass doch alles nur Spiel ist, um mich wieder zu beruhigen und mit einem Lächeln zurück in den Raum gehen zu können. Doch die volle Härte wird mich noch im Tiefschlag treffen. Einer von uns sitzt vor der Gruppe, die sich aus der Luft gegriffene Vorwürfe und Konfrontationen ausdenkt, auf die dieser Einzelkämpfer mit der immer gleichen Einleitung „Ja, aber“ und seinem Improvisationstalent antworten muss. Da heißt es zu Moritz „Du hast sie vor den Bus gestoßen“ und er kann mit seinen 16 locker fünf Minuten mit Sätzen wie „Ja, aber – das war einfach nötig“ oder „Ja, aber – sie hat es verdient“ parieren, das allergrößte und kälteste Arschloch der Welt spielen. Aber ich? „Dein Job ist dir wichtiger als alles andere“ Treffer! Versenkt. Ja. Kein Aber. Die anderen haben mich entlarvt. Jetzt frage ich mich nur noch, wie ich ihnen/Ihnen allen beibringen kann, dass ich ganz anders bin als sie/Sie jetzt vielleicht von mir denken.
Quelle: LVZ vom 14.12.2013